Als Giuseppe Conte vor die Kameras trat, musste er sich seinen Bürgern erst mal vorstellen. “Ich bin Professor und Anwalt”, sagte der designierte Ministerpräsident höflich, “ich werde der Verteidiger aller Italiener sein”. Wie bitte? Giuseppe wer? Die wenigsten hatten sein Gesicht schon einmal gesehen.
Das war im Mai 2018. Der blasse Jurist aus Florenz hatte im römischen Quirinalspalast mit seinen Marmorsäulen, Wandteppichen und vergoldeten Decken gerade den Staatspräsidenten getroffen. Gardesoldaten mit Goldhelmen hatten ihm salutiert, nun zeigt er sich über die Fernsehkameras zum ersten Mal seinem Volk.
Ein parteiloser Professor ohne jede Regierungserfahrung als Ministerpräsident – das war auch in Italien ungewöhnlich. Die Verunsicherung war ihm anzumerken. “Den Auftrag zur Regierungsbildung”, sagte er, “habe ich nur mit Zurückhaltung angenommen”.
Am Dienstagnachmittag wird Conte wieder im Quirinalspalast erwartet. Vorher wird er im Parlament eine Rede halten und feststellen, dass er nach den Attacken seines Vizepremiers Matteo Salvini keine Mehrheit mehr hat. Und dann ist es vorbei mit Italiens erstem Populistenkabinett. Conte tritt ab und bleibt nur noch geschäftsführend im Amt – bis eine andere Mehrheit im Parlament gefunden ist oder Neuwahlen stattfinden.
Lehrstunden über die parlamentarische Demokratie
Und dann kann der Hochschullehrer wieder an die Uni zurück. Oder etwa nicht? In den vergangenen Tagen ist in Italien etwas Kurioses passiert: Während sich die Koalition von Salvini (Lega) und Luigi Di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) zerlegte, wuchs Conte auf einmal über sich hinaus. Monatelang hatte der Ministerpräsident eine schwache Figur abgegeben. Er war eine Marionette seiner beiden Vizepremiers.
Sie bestimmten die Politik, er hielt sich raus. Wenn es knallte, versuchte er, so gut es eben ging, die beiden Streithähne wieder zu versöhnen. Aber ihm fehlte die eigene Hausmacht. Sein Hauptjob schien darin zu bestehen, Italien auf internationaler Bühne ein seriöses Gesicht zu geben – während sich seine rauflustigen Vizes zu Hause mit manchmal irren und fast immer teuren Ideen überboten.
In Conte muss sich einiges aufgestaut haben. Seit Innenminister Salvini am 8. August auf seiner sommerlichen Strandtournee mit Mojito-Partys die 5 Sterne als Neinsager attackierte und Neuwahlen verlangte, findet der Regierungschef klare Worte. Noch am selben Abend trat er um 22.45 Uhr im dunklen Anzug neben italienischen und europäischen Flaggen vor die Kameras.
“Diese Regierung war nicht am Strand”, sagte Conte, “sie hat von früh bis spät gearbeitet, mit Respekt vor den Italienern”. Er akzeptiere deshalb nicht mehr, dass seine Hingabe und Leidenschaft und die der Sterne-Minister kleingeredet werde.
Kühl, distanziert und staatsmännisch weist Conte seither immer wieder die Attacken seines eigenen Innenministers zurück. Wie einem unreifen Schuljungen erklärt der Ministerpräsident seinem Stellvertreter nun in offenen Briefen (“Gentile Ministro, caro Matteo”), wie die Italienische Republik funktioniert. Es sind Lehrstunden über die parlamentarische Demokratie, politischen Anstand und die Bedeutung Europas.
60 Prozent der Italiener sind mit Conte zufrieden
“Ich verstehe Deine obsessive Beschäftigung mit dem Thema Immigration, das Du auf die Formel ‘Häfen zu’ verkürzt”, heißt es in einem dieser Schreiben. “Unehrlichkeit” könne er aber nicht länger hinnehmen. “Wir haben viele Monate Seite an Seite gearbeitet”, schreibt Conte, “und ich habe immer versucht, Dir die Würde zu vermitteln, die unsere Rolle mit sich bringt”. Offenbar vergebens: Zum Ende der gemeinsamen Amtszeit fürchte er, so Conte, dass im Lande nur noch “Wut und Lieblosigkeit regieren”.
Seither fliegen dem Professor die Herzen zu. “Ein großartiger Ministerpräsident”, “der erste Regierungschef in meinem Leben, von dem ich mich repräsentiert fühle”, “ein Riese zwischen Zwergen”, so oder so ähnlich lauten die Kommentare auf Facebook, wo Conte mit seinen Stellungnahmen sogar dreimal mehr Likes kassierte als Salvini. “Premier schlägt Minister 3 zu 1”, kommentierte die Tageszeitung “Corriere della Sera” mit Verwunderung – bisher hatte Salvini die sozialen Medien dominiert.
Wenn er nach seiner Zukunft gefragt wird, sagt Conte gerne, er würde wieder Anwalt oder Professor werden, “was mir beides sehr gut gefällt”. Der Ministerpräsident weiß, dass seine Rolle auch kritisch gesehen wird: Wieso hat er so lange geschwiegen, warum hat er Salvini nicht viel früher kritisiert, weshalb hat er die scharfen Sicherheitsgesetze aus dessen Ministerium unterschrieben? Doch seiner Beliebtheit hat das in den jüngsten Umfragen nicht geschadet, etwa 60 Prozent der Italiener sind mit Conte zufrieden. Luigi di Maio und seine 5 Sterne wollen Conte deshalb wieder zum Ministerpräsidenten machen, falls sie mit der Opposition eine neue Regierung zustande bringen. Oder wenigstens zum EU-Kommissar in Brüssel.