Pflegebedürftige werden oft in zu niedrige Pflegegrade eingestuft und erhalten dadurch geringere finanzielle Leistungen. Laut Report Mainz mussten allein 2022 nach Widersprüchen fast 55.000 Einstufungen korrigiert werden.
Das Aufstehen fällt Adelheid Jünemann von Tag zu Tag schwerer. Die 85-Jährige hat Schmerzen und wird immer pflegebedürftiger. Jünemann hat Pflegegrad 3 und braucht dringend mehr Unterstützung. Doch die kostet Geld. Deshalb beantragt sie den höheren Pflegegrad 4. Das wären 183 Euro mehr Pflegegeld im Monat. Doch im Mai lehnt der Medizinische Dienst ihren Antrag ab, “nach Aktenlage”.
“Ich war nicht nur wütend. Ich war wahnsinnig wütend”, sagt Jünemann. Kein Gutachter habe sich über ihre zunehmende Pflegebedürftigkeit persönlich ein Bild gemacht. Deshalb gibt sie bei Karin Svete ein Zweitgutachten in Auftrag. Die Pflegefachkraft ist gesetzlich zugelassene Rentenberaterin im Bereich Pflege und hilft Menschen, die sich vom Medizinischen Dienst falsch begutachtet fühlen.
Aus ihrem Büro im Baden-Württembergischen Kirchentellinsfurt schaltet sich Svete über ein Tablett in die Wohnung von Jünemann. So hat sie persönlichen Kontakt zu der Pflegebedürftigen und kann sich ein genaues Bild von ihrem Zustand machen. Am Ende kommt Svete zum Ergebnis: Jünemann steht Pflegegrad 4 zu.
Fehler im Gutachten des Medizinischen Dienstes
Und Svete findet merkwürdige Behauptungen im Gutachten des Medizinischen Dienstes über die 85-Jährige. Eine davon: “Ihr pflegebedürftiger Mann, der Pflegegrad 4 hat, pflegt seine Frau an sieben Tagen je eine Stunde”.
Auch Jünemann versteht die Welt nicht mehr, denn ihr Mann könne sie gar nicht pflegen. “Mein Mann hat so starke Demenz, dass, wenn er das jetzt vorhätte, mich zu pflegen oder mir hilfreich zur Seite zu stehen, dann dauerte das keine Minute mehr, dann wüsste er es schon nicht mehr”, so Jünemann im Gespräch mit Report Mainz.
Wirft man einen Blick in den Bescheid des Ehemanns mit Pflegegrad 4, erfährt man, dass er angeblich von seiner Frau versorgt wird – und das an sieben Tagen in der Woche. Wie sollen sich schwer pflegebedürftige Eheleute gegenseitig pflegen? Adelheid Jünemann wird jetzt Widerspruch gegen ihr Gutachten einlegen.
Hohe Erfolgsquote bei Widersprüchen
Eine bundesweite Umfrage von Report Mainz bei allen medizinischen Diensten ergab: 2022 wurden insgesamt 2,5 Millionen Pflegegutachten erstellt. In über 185.000 Fällen wurde Widerspruch dagegen eingelegt.
Viele Betroffene aber würden gar keinen Widerspruch einlegen, sagt Katharina Lorenz vom Sozialverband Deutschland (SoVD) Niedersachsen. Der Bescheid würde meistens hingenommen, weil man einfach nicht mehr die Kraft habe, sich auch in ein Widerspruchsverfahren zu begeben. Dabei haben Widersprüche nach Report-Mainz-Recherchen hohe Chancen auf Erfolg.
Fast 55.000 mal musste der Pflegegrad 2022 “bei gleicher Sachlage korrigiert” werden, also bei knapp 30 Prozent aller Widerspruchsgutachten. 2021 lag die Quote bei 29,6 Prozent und im ersten Halbjahr 2023 bei 28,2 Prozent.
Kritik am Medizinischen Dienst
Der emeritierte Sozialrechtler Ingo Heberlein sieht die Zahlen kritisch. Er war selbst zwölf Jahre Geschäftsführer eines Medizinischen Dienstes. “Die 30 Prozent sind einfach zu hoch. Und es muss unbedingt versucht werden, diese Zahl nach unten zu bringen durch Schulungen, durch genauere Untersuchungen”, so Heberlein.
Auch für Lorenz sind die 30 Prozent ein “unhaltbarer Zustand”. Pflegebedürftige würden “im Regen stehen gelassen, weil Pflegebegutachtungen nicht korrekt durchgeführt werden.”
Seit Ende Juli liegt auch das neue Gutachten des Medizinischen Dienstes von Jünemann vor. Ihr Widerspruch: Abgelehnt. Wieder nach Aktenlage. Und wieder ist der selbst pflegebedürftige Ehemann als der Pfleger seiner Frau angeführt.
Lauterbach spricht von Einzelfällen
Damit konfrontiert spricht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von ausgewählten Einzelfällen. “Nur wenn aufgrund einer eindeutigen Aktenlage das Ergebnis der medizinischen Untersuchung bereits feststeht und durch eine erneute persönliche Begutachtung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind, kann die Begutachtung ausnahmsweise auch ohne Untersuchung des Versicherten in seinem Wohnbereich erfolgen”, so Lauterbach auf Anfrage von Report Mainz.
Grundsätzlich aber würden Widerspruchsgutachten im Rahmen einer persönlichen Begutachtung durchgeführt.
Problematische Demographische Entwicklung
Die Medizinischen Dienste stehen auch durch die demografische Entwicklung unter Druck. Seit 2019 ist die Zahl der Pflegebegutachtungen von 2,1 auf 2,5 Millionen gestiegen. Bei gleichzeitigem Fachkräftemangel.
“Wenn sie immer mehr Gutachten mit dem gleichen Personal bewältigen müssen, dann besteht natürlich die Gefahr, dass die Qualität der einzelnen Gutachten abnimmt. Deswegen auch die Versuche über andere Gutachtenformen einfach mehr Gutachten produzieren zu können”, sagt Sozialrechtler Heberlein.
Andere Gutachtenformen? So wurden 2022 835.000 Gutachten mit einem so genannten strukturierten Telefoninterview durchgeführt, also jedes Dritte. Es habe sich bewährt, sagt der Medizinische Dienst und sei zudem ressourcenschonend.
Schlechte Erfahrungen mit Telefonbegutachtung
Franziska Harms sieht das ganz anders. Nach einem Telefoninterview sei ihr Erstantrag auf einen Pflegegrad umgehend abgelehnt worden. Dabei habe das Gespräch nur wenige Minuten gedauert, erzählen sie und ihr Mann. Sie fühle sich “betrogen”.
Jetzt beschäftigt sich Lorenz vom SoVD Niedersachsen mit ihrem Fall: “Die Telefonbegutachtung hätte niemals, auch nicht mit Zustimmung der antragsstellenden Person, durchgeführt werden dürfen.” Das sei so gesetzlich geregelt und ausgeschlossen.
Der Medizinische Dienst Niedersachsen bestreitet den Gesetzesverstoß nicht und erklärt gegen über Report Mainz. Wegen “eines Cyberangriffs” seien Termine zur Gutachtenerstellung ausgefallen. Deshalb habe man in Abstimmung mit den “beauftragenden Kassen” (…) “auch auf beschleunigte Verfahren wie die Telefonbegutachtung” gesetzt. Auch von Harms hätte “die Begutachtung mittels strukturiertem Telefoninterview” (…) “jederzeit abgelehnt” werden können, “ohne dass daraus ein Nachteil entstanden wäre”.
Harms hat erst einmal den größtmöglichen Nachteil, nämlich keinen Pflegegrad durch eine gesetzwidrige Begutachtung. “Und da muss man sich einfach wehren, auch wenn es schwer ist”, sagte sie.
Widerspruch kann sich lohnen
Erst nach der Anfrage des ARD-Politikmagazins wurde Harms persönlich durch den Medizinischen Dienst begutachtet – mit Erfolg: Jetzt hat sie Pflegegrad 2.
Im Fall des Ehepaars Jünemann räumte der medizinische Dienst formale Fehler ein und entschuldigte sich. Adelheid Jünemann wurde jetzt erneut im Rahmen eines Hausbesuchs begutachtet. Ergebnis: Wieder Pflegegrad 3. Jetzt will die 85-jährige vor dem Sozialgericht klagen.