Sunday, November 10, 2024
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Bundesregierung begeht Jubiläum: Ein Jahr im Krisenmodus

Das erste Jahr der deutschen Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten ist geprägt von der Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Bundeskanzler Olaf Scholz ist mit sich im Reinen. In seinem neuesten Video-Podcast skizziert er nüchtern und sachlich, was seine Regierung im ersten Amtsjahr erreicht hat: Die Ukraine gegen die russische Aggression mit humanitärer Hilfe, Geld und Waffen zu unterstützen. Deutschlands Energieversorgung sichern und gesetzliche Grundlagen für den Ausbau Erneuerbarer Energien schaffen. Finanzielle Entlastung für Bürger, die mit starken Preissteigerungen konfrontiert sind, Anhebung des Mindestlohns und Durchsetzung verbesserter Sozialleistungen.

Seine Botschaft lautet: Wir haben die Dinge im Griff, trotz einer Häufung existenzieller Krisen, wie sie noch keine Bundesregierung zu bewältigen hatte.

Olaf Scholz zeigt sich zufrieden mit den Leistungen seiner “Ampel-Koalition” – benannt nach den charakteristischen Farben der drei Parteien: Scholz’s Mitte-Links-SPD, die wirtschaftsorientierten Freien Demokraten (FDP) und die umweltbewussten Grünen. deren jeweilige Parteifarben rot, gelb und grün sind.

Wähler unzufrieden

Viele Bürger sehen das anders. Seit Monaten zeigen Umfragen, dass die Koalitionsregierung bei einer Neuwahl keine Mehrheit mehr im Parlament hätte. Die Unzufriedenheit ist gewachsen. Nur eine Minderheit glaubt, dass die Koalition gute Arbeit leistet.

Doch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch will nicht zu hart urteilen. “Ich würde der Regierung die Note ‘befriedigend‘ geben“, so der Direktor der Akademie für Politische Bildung
(Akademie für politische Wissenschaft, Bildung, öffentliche Dienste) gegenüber der DW. Sie standen vor vielen großen und schwierigen Herausforderungen. Anstatt ihren Koalitionsvertrag einfach abzuarbeiten, habe man flexibel reagiert und sich von “vielen ihrer politischen Überzeugungen” entfernt, sagte sie.

Das Dreierbündnis trat am 8. Dezember 2021 sein Amt an und nannte sich selbst “Fortschrittskoalition“. Sie versprachen, alles daranzusetzen, das Land zu modernisieren. Deutschland solle klimaneutraler und digitaler werden, Frauen- und Minderheitenrechte gestärkt und Bürokratie abgebaut werden. Die zur Erreichung dieser Ziele notwendigen Projekte wurden Punkt für Punkt im Koalitionsvertrag festgelegt.

Nur zweieinhalb Monate später änderte sich alles. Russland ist in die Ukraine einmarschiert und hat die Welt zu einer “Zeitenwende“ gezwungen, wie die Bundeskanzlerin es in einer Bundestagsrede nannte. Die unmittelbare Folge: Scholz kündigte 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und die Unterstützung der Ukraine an.

Energiekrise und Inflation

Die Entscheidung, mit der bisherigen deutschen Staatsdoktrin zu brechen, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern, erschütterte SPD und Grüne bis ins Mark. Sie mussten sich von ihren pazifistischen Grundüberzeugungen lösen. Als stärkste Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine traten die Grünen hervor. Der SPD und Bundeskanzler Scholz wird dagegen schon lange vorgeworfen, zu zögerlich zu sein.

Das sieht die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch anders: “Es war richtig, eine Balance zwischen der Unterstützung der Ukraine und der Sorge vor einer Eskalation des Krieges zu suchen.” Es sei ärgerlich, sagt sie, dass sowohl Deutschlands europäische Partner als auch die USA noch unsicher seien, “welche Strategie die Kanzlerin eigentlich verfolgt”.

Als Reaktion auf Deutschlands Unterstützung für die Ukraine wurden russische Gaslieferungen nach Deutschland – das stark von ihnen abhängig ist – eingestellt, um Druck auf das Land auszuüben. Die Energiepreise schossen in die Höhe und lösten die höchste Inflation seit Jahrzehnten aus.

Seitdem bestimmen die dramatischen Folgen für Staat, Wirtschaft und Bürger das Handeln der Regierung. Drei Hilfspakete im Gesamtwert von rund 100 Milliarden Euro wurden aufgelegt. Hinzu kam ein wirtschaftlicher “Abwehrschirm“ in Höhe von 200 Millionen Euro mit Obergrenzen für Gas-, Heiz- und Strompreise. Nicht zu vergessen die Finanzierung deutscher Unternehmen, die von Sanktionen oder Krieg betroffen sind, und die Kosten für die Unterbringung und Versorgung von rund einer Million Flüchtlingen aus der Ukraine, die Deutschland inzwischen aufgenommen hat.

Misstrauen innerhalb der Koalition

Insgesamt hat die Koalitionsregierung in ihrem ersten Amtsjahr rund 500 Milliarden Euro Schulden aufgenommen. Bundeskanzler Scholz prägte für die Finanzspritze den Begriff “Doppelwumms“, angelehnt an den singulären “Whammy“, mit dem er 2020 als Finanzminister das Hilfspaket COVID-19 ankündigte. Scholz, der nicht gerade für Gefühlsausbrüche bekannt ist, setzt auf solche Sprachgymnastik, um den Ernst einer Situation zu vermitteln.

Wegen der angespannten Finanzlage mussten viele Projekte des Koalitionsvertrags zurückgestellt werden. Trotzdem konnten alle drei Partner einige ihrer Ziele erreichen: Die SPD setzte das “Bürgergeld“ – eine große Reform der Arbeitslosenunterstützung – durch, baute die Grundsicherung aus und erhöhte den Mindestlohn. “Die Grünen können darauf hinweisen, dass sie am Atomausstieg festhalten, aber das wird von ihren eigenen Anhängern geschätzt, nicht von der Mehrheit der Bevölkerung”, sagt Politikwissenschaftlerin Münch.

Die FDP hingegen ist in Umfragen und Landtagswahlen abgetaucht. Sie tut sich schwer damit, ihr Ziel zu erreichen, die öffentlichen Finanzen zu sanieren und die Staatsverschuldung einzudämmen. “Durch die Krise ist ein solides Budget in weiter Ferne und die Infrastrukturprojekte werden Jahre dauern“, erklärt Münch.

Münch findet, “dass sich die Regierung schon oft in Grundsatzstreitigkeiten verheddert hat”. Im Fall der Verlängerung der Lebensadern der verbleibenden drei Atomkraftwerke des Landes ging dies so weit, dass die Kanzlerin eingreifen musste.

Mit Blick nach vorne zeigt Scholz auch international Stärke. “Deutschland will der Garant der europäischen Sicherheit werden, den unsere Verbündeten von uns erwarten“, schrieb er diese Woche.

Machtkämpfe wollten die Koalitionspartner vermeiden. Das funktioniert aber nicht, wenn eine Partei das Gefühl hat, ins Hintertreffen zu geraten. Im europäischen Sommer, als die Grünen in Umfragen die SPD schlagen und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen weitaus höhere Zustimmungswerte hat als der Scholz, zielen die SPD-Abgeordneten ab: “Das Habeck-Prinzip lautet: Kamera bereit Schein, fragwürdige technische Umsetzung und am Ende zahlt der Bürger dafür.”

Die Grünen konterten: “Das schlechte Abschneiden des Kanzlers, seine miesen Umfragewerte” würden “nicht durch Illoyalität und Ressentiments in der Koalition geheilt”.

Mit Blick auf die Zukunft müsse die Koalition andere Lösungen finden, als Probleme mit Geld zu bewerfen, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Für sie sind die Deckelungen und Subventionen bei Gas- und Strompreisen keine zufriedenstellende Lösung. “Die Energiekosten werden stark und teuer subventioniert, aber gleichzeitig wird wenig getan, um das Angebot an klimafreundlicher Energie zu erhöhen.“

Die Energieknappheit wird bleiben. Sind die Gasreserven im Frühjahr geleert, müssen Wege gefunden werden, sie bis zum Spätherbst wieder aufzufüllen – ohne Gaslieferungen aus Russland eine Herkulesaufgabe.

Die Inflation wird voraussichtlich hoch bleiben; Die Wirtschaft steht vor einer Rezession. Die Regierung könnte in ihrem zweiten Jahr vor noch größeren Herausforderungen stehen als im ersten. Der Kanzler muss seine Koalition zusammenhalten und Kurs halten. Keine leichten Aufgaben. Olaf Scholz wird ihnen wahrscheinlich so begegnen, wie er es in seiner jahrzehntelangen politischen Karriere immer getan hat: unbeirrt, stoisch und manchmal ein wenig stur.

Quelle: DW

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